Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung

Nach schweizweiter Kodifizierung und Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts per 1. Januar 2011 soll nun nach einem Jahrzehnt Erfahrung die Praxistauglichkeit und Rechtsdurchsetzung der Zivilprozessordnung (ZPO) verbessert werden. Nachdem der Bundesrat die Änderungen der ZPO am 2. März 2018 in die Vernehmlassung geschickt hat, wurde der definitive Revisionsentwurf und die entsprechende Botschaft am 26. Februar 2020 veröffentlicht. Am 10. Dezember 2021 verabschiedete der Bundesrat zudem die Botschaft zur Änderung hinsichtlich Verbandsklage und kollektiver Vergleich. Am 6. September 2023 setzte der Bundesrat die Änderung der ZPO auf den 1. Januar 2025 in Kraft. Nachfolgend werden die wesentlichen Änderungen durchleuchtet.

Abbau von Kostenschranken

Gemäss Art. 98 ZPO kann der Kläger verpflichtet werden, die mutmasslichen Gerichtskosten vollumfänglich vorzuschiessen. Dies stellt für die Rechtssuchenden ein Hindernis dar. Zukünftig sollen die Gerichtskostenvorschüsse nur noch die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten betragen (Art. 98 E-ZPO). Die mehrheitlich kantonale Ablehnung gegen diese Änderung fliesst jedoch in einen Ausnahmekatalog, welcher nach wie vor einen Vorschuss im Umfang der gesamten mutmasslichen Gerichtskosten erlaubt (Streitigkeiten der internationalen Handelsgerichtsbarkeit, direkte Klagen beim oberen Gericht, Schlichtungsverfahren, in bestimmten summarischen und im Rechtsmittelverfahren).

Des Weiteren trägt der Staat das Risiko, wonach die Kostenvorschüsse der obsiegenden (bzw. nicht-kostenpflichtigen) Partei an diese zurückerstattet werden müssen (Art. 111 E‑ZPO). Weiterhin werden die Gerichtskosten mit den geleisteten Vorschüssen der kostenpflichtigen Partei verrechnet. Der von der nicht kostenpflichtigen Partei geleisteter Vorschuss wird jedoch neu zurückbezahlt und ein Fehlbetrag bei der kostenpflichtigen Partei nachgefordert. Die neue Regelung verlagert somit das diesbezügliche Inkassorisiko an den Staat.

E contrario der bis anhin erfolgten Rechtsprechung des Bundesgerichts wird neu auch in Verfahren betreffend vorsorgliche Beweisführung die unentgeltliche Rechtspflege gewährt (Art. 118 Abs. 2 E‑ZPO).

Zusätzliche Kompetenzen Schlichtungsbehörde

Wie bis anhin soll im Sinne der Prozessökonomie die aussergerichtliche Beilegung eines Konflikts angestrebt werden. Bereits heute werden 50% bis 60% der Streitigkeiten einvernehmlich vor dem Friedensrichter erledigt. Künftig wird das Schlichtungsverfahren punktuell ausgebaut, indem die Schlichtungsbehörde in den Genuss erweiterter Kompetenzen kommt. In vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von CHF 10'000 soll die Schlichtungsbehörde einen Urteilsvorschlag (neu: Entscheidvorschlag) unterbreiten können (Art. 210 Abs. 1 lit. c E-ZPO). Des Weiteren soll ein freiwilliges Schlichtungsverfahren bei gewissen Streitigkeiten vor einer einzigen kantonalen Instanz (u.a. vor Handelsgerichten) eingeführt werden (Art. 198 lit. f und Art. 199 Abs. 2 E-ZPO).

Schaffung der Möglichkeit einer internationalen Handelsgerichtsbarkeit und Zulassung von Englisch und anderen Landessprachen als Verfahrenssprachen

Kantone erhalten neu die Kompetenz, die Zuständigkeit der kantonalen Handelsgerichte auszudehnen. Vorausgesetzt wird ein Streitwert von über CHF 100'000, die Ansässigkeit bzw. der Sitz oder gewöhnliche Aufenthalt mindestens einer Partei im Ausland, die Betroffenheit einer geschäftlichen Tätigkeit einer Partei und die Übereinkunft hinsichtlich Gerichtsstandsvereinbarung der Parteien (Art. 6 Abs. 4 lit. c E‑ZPO). Internationale Zivilverfahren sollen zudem an Attraktivität gewinnen, weshalb die ZPO-Revision es ermöglicht, das Verfahren auf Englisch zu führen – und dies sogar bis vor Bundesgericht (Art. 129 Abs. 2 E‑ZPO; Art. 42 Abs. 1bis E‑BGG). Hiervon ausgenommen ist das Urteil des Bundesgerichts, welches weiterhin in einer Amtssprache zu erfolgen hat. Auch kann eine Partei nicht auf die Amtssprache(n) des zuständigen Kantons als Verfahrenssprache im Voraus verzichten (Art. 129 Abs. 2 lit. b E‑ZPO).

Verhandlungen mittels elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung

Zukünftig steht es den Gerichten mit Einverständnis der Parteien und Gewährleistung von Datenschutz und-sicherheit offen, zeitgleiche Verhandlungen mittels Videokonferenz und anderen elektronischen Mitteln zur Ton- und Bildübertragung durchzuführen (Art. 141a E‑ZPO). Dasselbe gilt zudem für die Einvernahme von Zeugen, Parteibefragungen, Beweisaussagen und die Erstattung von Gutachten (Art. 170a, Art. 187 Abs. 1 und Art. 193 E-ZPO).

 Mitwirkungsverweigerungsrecht für Inhouse-Juristen

Neu können Inhouse-Juristen die Mitwirkung im Zivilprozess verweigern (Art. 167a E‑ZPO). Vorausgesetzt ist hierfür, dass die entsprechende Tätigkeit des Juristen bei einem Anwalt als berufsspezifisch gelten würde und der Leiter des Rechtsdienstes über ein (kantonales oder im Herkunftsland für die Ausübung des Anwaltsberufes anerkanntes) Anwaltspatent verfügt. Die betroffene Partei muss zudem als Rechtseinheit im schweizerischen Handelsregister oder in einem vergleichbaren ausländischen Register eingetragen sein. Dabei soll dem prozessualen Nachteil schweizerischer Unternehmen gegenüber Unternehmen anderer Staaten, die ein solches Privileg kennen, nachgekommen werden. Zudem fallen die Unterlagen aus dem Verkehr mit einem unternehmensinternen Rechtsdienst neu unter den Schutz von Art. 160 Abs. 1 lit. b E‑ZPO.

Weitere Revisionspunkte

a. Erleichterte Verfahrenskoordination (Art. 90 Abs. 2 E-ZPO und Art. 224 Abs. 1bis E‑ZPO)

Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist es wie bis anhin möglich, mittels Klagehäufung unterschiedliche Ansprüche in derselben Klage geltend zu machen. Sind unterschiedliche Verfahrensarten tangiert, so werden die Ansprüche zusammen im ordentlichen Verfahren abgehandelt (Art. 90 Abs. 2 E-ZPO). Dasselbe gilt verfahrensüberschreitend auch für die Widerklage. Sowohl für die Widerklage, die einzig aufgrund ihres Streitwertes im vereinfachten Verfahren zu behandeln wäre, als auch für die negative Feststellungsklage in Reaktion auf eine Teilklage (Art. 224 Abs. 1bis E-ZPO).

b. Konkretisierung der Novenschranke (Art. 229 E-ZPO)

Anders als der Bundesrat hat das Parlament in Art. 229 E-ZPO bei der Novenschranke eine Änderung eingeführt. Neue Tatsachen und Beweismittel können in der Hauptverhandlung im ersten Parteivortrag, wenn weder ein zweiter Schriftenwechsel noch eine Instruktionsverhandlung stattgefunden haben, unbeschränkt vorgetragen werden. In allen anderen Fällen können neue Tatsachen und Beweismittel bis spätestens zum ersten Parteivortrag in der Hauptverhandlung vorgebracht werden.

c. Privatgutachten als Beweismittel (Art. 177 E-ZPO)

Gemäss der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung kommen Partei- und Privatgutachten keine Beweismittelqualität zu; diese gelten lediglich als Parteibehauptungen. Neu soll die Urkundenqualität von Partei- und Privatgutachten ausdrücklich im Gesetz verankert werden. Dadurch sollen Partei- und Privatgutachten neu zulässige Beweismittel darstellen, aber inhaltlich der freien Beweiswürdigung des Gerichts unterliegen.

d. Vorsorgliche Massnahmen gegen Medien (Art. 266 lit. a E-ZPO)

Das gesetzgeberische Versehen, Massnahmen gegen periodisch erscheinende Medien nur für drohende, nicht aber bestehende Verletzungen vorzusehen, wird korrigiert. Insofern erfährt das Medienprivileg eine Einschränkung. Die revidierte ZPO verabschiedet sich zudem vom Zusatz "besonders" beim vorausgesetzten "schweren Nachteil", damit die vorsorglichen Massnahmen angeordnet werden können (Art. 266 lit. a E-ZPO).

e. Streitwert Verbandsklage (Art. 94a E-ZPO)

Der Streitwert einer Verbandsklage wird im Ermessen des Gerichts entsprechend dem Interesse der einzelnen Angehörigen der betroffenen Personengruppe und der Bedeutung des Falles festgesetzt.

f. Eingaben an ein unzuständiges Gericht (Art. 143 Abs. 1bis E-ZPO)

Fristgerechte, aber irrtümlich bei einem offensichtlich unzuständigen Gericht eingereichte Eingaben gelten als rechtzeitig eingereicht. Das unzuständige Gericht leitet die Eingabe von Amtes wegen an das zuständige Schweizer Gericht weiter.

Fazit

Die per 1. Januar 2025 in Kraft tretende Revision der ZPO verbessert die Praxistauglichkeit und die Rechtsdurchsetzung. Durch die Minimierung des Kostenvorschusses und die Überwälzung des Inkassorisikos auf den Staat soll dem Rechtssucheden der Zugang zum Gericht erleichtert werden. Dieselbe Idee verfolgt der Einbezug elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Verhandlungen. Im Sinne der Prozessökonomie sollen zukünftig noch mehr Streitigkeiten einvernehmlich im Schlichtungsverfahren erledigt werden können. Der Standort Schweiz soll in Bezug auf die Gerichtsbarkeit bei internationalen Verhältnissen und durch die Zulassung von Englisch und anderen Landessprachen als Verfahrenssprache an Attraktivität gewinnen. Für Inhouse-Juristen soll unter spezifischen Voraussetzungen in Analogie zu ausländischen Unternehmen auch das Mitwirkungsverweigerungsrecht gelten.

Bei Fragen zur Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung, sowie generell bei zivilprozessrechtlichen Fragen in der Schweiz stehen Ihnen Arife Asipi und Balthasar Wicki gerne zur Verfügung.